(Erzählte) Zeit des Wartens - Semantiken und Narrative eines temporalen Phänomens
Abstract
Das Warten ist Menschen vornehmlich westlicher Kulturen ein vertrautes
Phänomen. Kaum ein Mensch kann von sich behaupten, noch nie in einer
Wartesituation gewesen zu sein. Stellt das Warten also einen der Lebenswelt des
Menschen zugehörigen, vertrauten Zeitzustand dar, ist umso auffälliger, dass es in
der Forschung bisher wenig Beachtung fand.
Diese Arbeit will einen Beitrag dazu leisten, das Warten nicht einfach unbefragt
hinzunehmen, sondern möchte aus einer philosophisch-phänomenologischen und
insbesondere einer literaturwissenschaftlichen Perspektive nähere Erkenntnisse zu
diesem temporalen Phänomen erlangen. Dafür bietet sich, zugunsten eines
übergeordneten Schemas, eine an die Phänomenologie Husserl’scher Prägung
angelehnte und diese erweiternde Analyseweise an: Sie orientiert sich zunächst an
Husserls Konzept der ‚epoché‘; jener phänomenologischen Einstellung, die
generell vermeintlich vertraute Gewissheiten des alltäglichen Welterlebens, zu
denen auch das Phänomen des Wartens in der Lebenswelt gehören, eben nicht als
solche hinnimmt. Vielmehr klammert sie jegliche Seinssetzung, die Generalthesis,
ein und beschreibt die Phänomene des Bewusstseins in Akten einer
unvoreingenommenen Analyse. Sodann wird diese Perspektive durch
Bezugnahme auf Paul Ricoeur ergänzt, der in seinem Vorgehen die Erfassung
lebensweltlicher Phänomene an die Sprachäußerungen, und somit auch an die
Literatur, knüpft. Dies geschieht mittels der Methode des ‚voie longue’ (Ricoeur).
Damit wird ein lebensweltphänomenologischer Ansatz um die hermeneutische
Komponente erweitert, die ein unabdingbarer Bestandteil der
Literaturwissenschaft ist und in der Interpretation sprachlicher Texte der „Welt
des Werkes“1 einen Beitrag zur Erfassung von menschlicher Zeiterfahrung leisten
kann.
Die literarische Zeiterfahrung orientiert sich somit zwar an der lebensweltlichen.
Sie kann jedoch im literarischen Werk aufgrund seiner poietischen Möglichkeiten
des spielerischen Umgangs mit sprachlichen Ausdrucksformen, Verbalzeiten und
dichterischer Freiheit, sowie aufgrund der sich im Lese- und Interpretationsakt
aktualisierenden Erfahrungsmöglichkeiten eine Anschaulichkeit von
Zeiterfahrung stiften, die über diejenige phänomenologischer sowie empirischsoziologischer
Studien hinausgeht. [bearbeitet von der Autorin]